Wenn der ganze Mensch erklingt, oder warum Singen uns friedfertig macht…

„Singen ist die eigentliche Muttersprache des Menschen“ Yehudi Menuhin

 

Liebe Freundinnen und Freunde der Stimme,

als Gesangslehrerin und Stimmtherapeutin mache immer wieder die Erfahrung, wie umfassend die Stimmarbeit Einfluss nimmt auf Themen, die scheinbar mit der Stimme gar nichts zu tun haben. Da uns in der Weihnachtszeit das natürliche Singen näher ist als zu vielen anderen Zeiten des Jahres (sogar vor dem Rathaus gibt es bei uns Lieder zum Mitsingen) möchte ich Sie/euch zu ein paar Gedanken einladen.

 

Inzwischen ist sogar umfassend physiologisch erforscht und begründet welche positive Auswirkung Klangbildung/Singen auf den Menschen hat. Das betrifft neurologische Anregung, den Einfluss auf Vitalitätsfunktionen wie Herz, Atmung und die dazugehörigen Wechselwirkungen. Auch der positive Einfluss auf unsere Gestimmtheit gehört dazu.

 

Im Grunde kann man es gut zusammenfassen, indem man alltagsprachlich Singen als absolut ganzheitlichen Ausdrucksprozess des Menschen beschreibt. Der ganze Mensch versetzt sich in Schwingung! Hinzu kommt, dass Ausdruck, egal in welcher Form, immer antidepressiv ist und anregend und befreiend wirkt.

 

Beim Tönen und Singen sind wir derart aktiv beteiligt mit allen Sinnen, Organen und Empfindungen (Körper, Seele und Geist), dass das Erlebnis eine Art „in den Fluss“ kommen ist. Nicht selten sind die ersten Begegnungen in der Gesangsstunde begleitet von starken Empfindungen und bangem Festhalten oder innerem Ringen mit dem Impuls jetzt einen „ganzkörperlichen Ausdruck“ von sich selbst in den Raum zu bringen. Ist dieser Schritt geglückt folgt eine Überraschung, darüber, dass ein paar Töne der eigenen Person so „bewegend“ und berührend sind.

 

In Gruppen kommt hinzu, dass wir uns in den gemeinsamen Klang einfügen, ihn mitgestalten oder uns von ihm stützen lassen. Wir begegnen den Anderen und verhandeln Beziehungen auf einer anderen Ebene, treten in Erscheinung und beteiligen uns hörbar an der Gestaltung von gemeinschaftlichen Zusammentreffen, am Gottesdienst, an einer Feier etc.

 

Ein interessanter Aspekt ist auch, dass gesungene oder musikalisch dargestellte Konflikte in gewisser Weise entschärft werden – wenn in Requien oder Oratorien Tod und Leidensgeschichten besungen werden, so lässt sich dieser Prozess trotzdem gut anhören oder sogar singen – er schreitet fort, er fließt …ich frage mich, ob es außer in der Oper möglich ist sich so richtig singend zu streiten – uneinsichtig, vernichtend, bewegungslos.

Es scheint, als ob die Ganzheit, von der oben die Rede war, hier ebenfalls eine Rolle spielt. Der ganze Mensch verirrt sich weniger als seine einzelnen Teile. Er ist flexibler.

 

Haben Sie schon mal ein Problem gesungen? Vielleicht kennt der Eine oder die Andere die inneren Konflikt-Monologe, die uns mehr oder weniger bewusst begleiten. In meinem Kopf jedenfalls gibt es sie. Versuchen Sie mal demnächst das Ganze zu singen, es kann ganz schlicht sein.: „Das ist wirklich eine blöde Sache, ...“ usw.

Die emotionale Brisanz kann sich meiner Erfahrung nach kaum erhalten und löst sich auch gerne in Lachen auf, nur weil der Konflikt gesungen statt gesprochen wird.

 

Ich wünsche allen eine klangvolle und friedvolle Weihnachtszeit!

 

Ihre/eure Nicola Westphal

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